Kollegen und Konkurrenten – Carl Gottlieb Reißiger und Richard Wagner

Sieben Jahre Kollegen und Konkurrenten

Carl Gottlieb Reißiger und Richard Wagner in Dresden

Carl  Gottlieb Reißiger (auch Reissiger geschrieben) wurde am 31.1.1798 als Sohn des Kantors an der Marienkirche in Belzig geboren, erhielt von ihm Musikunterricht, kam mit dreizehn Jahren zu den Thomanern nach Leipzig. Nach Abschluss seiner Musikstudien in Leipzig, Wien und München und einer Bildungsreise wurde er Ende 1826 im Alter von 28 Jahren als Musikdirektor nach Dresden gerufen. 1828 trat er offiziell die Nachfolge von Carl Maria von Weber als Zweiter Sächsischer Hofkapellmeister an, ab 1853 war er Erster Sächsischer Hofkapellmeister und bekleidete dieses Amt bis zu seinem Tode am 7. November 1859. Reißigers Gesamtschaffen umfasst ca. 600 Werke, darunter 10 Opern, 13 große Messen für die Katholische Hofkirche in Dresden, 60 Lieder, weiterhin Hymnen, Motetten, das Oratorium „David“, ein Requiem, Orchester- und Kammermusik aller Art.  Völlig zu Unrecht sind große Teile seiner Werke in Vergessenheit geraten. 

Richard Wagner, 15 Jahre jünger als Reißigererblickte am 22.5.1813 in Leipzig das Licht der Welt. Er studierte dort Musik. Nach kurzer Tätigkeit in Würzburg 1833 arbeitete er danach unstet und hoch verschuldet in Königsberg und Riga, floh nach England und lebte dann in Paris, wo seine erste Oper „Rienzi“ fertiggestellt und „Der fliegende Holländer“ getextet und komponiert wurden. In Dresden wirkte Wagner zwischen 1842 und 1849. In dieser Zeit arbeitete er bereits an seinen Opern „Tannhäuser“, „Die Meistersinger von Nürnberg“ und „Lohengrin“.  – Wagner starb 1882. Heute gilt er mit seinen durchkomponierten Musikdramen als einer der bedeutendsten und einflussreichsten Komponisten der Romantik.

Reißiger und Wagner waren sich vor der Dresdener Zeit bereits ein Mal kurz im Jahr 1834 begegnet, als Reißiger schon 8 Jahre in Dresden wirkte. Wagner und sein Freund Theodor Apel machten in Dresden Station auf einer Reise nach Böhmen und verlebten mit Reißiger wohl einen lustigen Abend. Richard Wagner schrieb dann 1840 von Paris aus, als er seinen „Rienzi“ bei dem Dresdener Generaldirektor von Lüttichau eingereicht hatte, einen Brief an Reißiger, in dem er sich auf die an diesem Abend angeknüpften Beziehungen berief und um seine Fürsprache bat. 

Von Lüttichau übergab die Partitur zur Prüfung an Reißiger, der in einem Privatbrief an Wagner dem Komponisten seine Zufriedenheit mit der Partitur „ebenso schmeichelhaft als bieder“ ausdrückte und die Annahme der Oper bestätigte. Wagner übersiedelte daraufhin nach Dresden. „Reißiger unterzog sich der Mühe, das an Schwierigkeiten und Ausdehnung bis dahin einzig dastehende Musikwerk sorgfältigst einzustudieren. Der verständnis-, temperament- und vor allem liebevollen Leitung Reißigers hatte die Premiere des Rienzi im Oktober 1842 zum nicht geringen Teil ihren außerordentlichen Erfolg zu verdanken,“ heißt es später in der Allgemeinen Musikzeitung (AMZ).

Die äußeren Bedingungen in Dresden für Opern- und Schauspielaufführungen konnten nicht besser sein: Seit 1841 erfolgten sie in dem von Gottfried Semper erbauten Königlichen Hoftheater (dem Vorgängerbau der heutigen Semperoper). Mehr als 1600 Personen hatten hier Platz. Es galt mit vier Rängen als das schönste Theater in Europa (vollständig abgebrannt 1869). 

Bei den Proben zu „Rienzi“ trat Wagner auch in nähere persönliche Beziehungen zu Reißiger. Anfänglich kam Richard Wagner seinem Kollegen und Gönner mit großer Beflissenheit entgegen. Er bot ihm sogar einen von ihm nach Königs Roman „Hohe Braut“ verfertigten Operntext an, der für Reißigers „melodienreiche Musik“ geeignet sein sollte, und brachte ihm zu jeder Klavierprobe mehr oder weniger Verse mit. Aber die argwöhnische Frau Kapellmeisterin witterte in der Bereitwilligkeit Wagners, für ihren Gatten einen Operntext zu schreiben, nichts Gutes. Reißiger ließ den Text fallen und gab ihn Wagner zurück. 

Auch Wagners „Fliegender Holländer“, der von München und Leipzig abgelehnt worden war, ging in Dresden – infolge der Befürwortung Reißigers – in Szene und hatte, wenn auch keinen beispiellosen, so doch immerhin einen sehr annehmbaren Erfolg.  Der bis dahin unstet und flüchtig umherirrende, von Nahrungssorgen gequälte Komponist wurde nun 1843 mit einem ansehnlichen Gehalt als Königlicher Kapellmeister neben Reißiger angestellt.  Der große Erfolg des „Rienzi“ und die schwärmerische Begeisterung aller Darsteller sowie die Ernennung Wagners zum Kapellmeister mit gleichen Rechten wie Reißiger führte allerdings zu Missstimmung bei letzterem.  Der damalige Intendant Karl Gutzkow schrieb wesentlich später in seinen Memoiren: „Reißiger musste den ersten Anprall dessen aushalten, was wir später als „Musik der Zukunft“ mit ihren Prätensionen haben kennen lernen. Das Chaos von Ideen, das jetzt jene Bretter in Bayreuth aufschlägt, um die in Musiküberschwemmung versetzten Lehrbücher der nordischen Mythologie genießbar zu machen, stürmte in seinem ersten vulkanischen Brodeln und Sprühen unmittelbar auf diesen wackeren, in seinen Formen immer liebenswürdigen Biedermann (Reißiger) ein.“ Gutzkow erzählt weiter, dass Reißiger in den Konferenzen wiederholt mit größter Wärme für Wagner eingetreten sei. „Ich bewundere den Mann, ich schätze sein Talent,“ hätte er mehrfach überzeugt und begeistert ausgerufen. Hat Reißiger auch nicht alles durchsetzen können, was der ehrgeizige Kollege erreichen wollte, so ist doch eigentlich von seiner Seite viel versucht worden, um den Genius Richard Wagners an der Dresdener Hofbühne zur vollen Geltung kommen zu lassen. Wenn dieser ihm Vorwürfe über dies oder jenes machte, so sagte er sich höflich entschuldigend: „Aber man kann doch nicht mit dem Kopf gegen die Wand rennen.“ 

Aber von Jahr zu Jahr steigerte sich die Antipathie Wagners gegen seinen Amtsgenossen, und in den vertraulichen Zuschriften, die er an die Seinigen sandte, fehlte es schon damals nicht an scharfen Ausfällen, die sich sowohl gegen den Menschen wie den Kapellmeister und Komponisten richteten. Schon während der Proben zu „Rienzi“ im Mai 1842 schrieb er an seine Schwester Cäcilie Avenarius in Leipzig u. a.: „Reißiger fällt mir zwar beständig um den Hals und küßt mich ab, wenn er mich habhaft wird. Auch bestätigt mir alles, daß er es wirklich redlich mit mir meint und den besten Willen hat. Leider ist aber der Mensch ein so fauler Philister geworden, daß ich schrecklich daran wäre, wenn ich die künstlerische Ausführung meiner Oper allein seiner Führung überlassen wollt.“ Ein Jahr später heißt es in einer Zuschrift an dieselbe: „Reißiger ist so sehr zur Null herabgesunken, daß seine Wirksamkeit für gar nichts mehr erachtet werden kann.“  Reißiger faul und eine Null? Dieser Vorwurf ist wohl nicht berechtigt angesichts von Reißigers vielen Werken. Zur damaligen Zeit war ein Hofkapellmeister nicht nur für die Opern- und Theateraufführungen verantwortlich, sondern auch für die Kirchenmusik.  Die Königliche Hofkapelle hatte in der Katholischen Hofkirche bis zu 300 Gottesdienste im Jahr zu begleiten. Und es wurden selbstverständlich auch eigene Kompositionen erwartet. Bei Reißigers Dienstantritt in Dresden stand das sogar noch ausdrücklich im Vertrag: Für das Gehalt, das der Hof ihm zahlte, musste Reißiger alljährlich auch eine große Messe komponieren. Die im Auftrag des Königs entstandenen Werke durften nur in der Hofkirche aufgeführt werden und sind folglich auch nicht gedruckt worden. Die Kammermusik dagegen, darunter dreiundzwanzig Klaviertrios und acht Streichquartette, hatte Reißiger wohl überwiegend für Freunde geschrieben als Hausmusik für das gesellige Beisammensein im bürgerlichen Wohnzimmer. Dass Reißiger auch das Repertoire des Opernhauses mit eigenen Arbeiten erweiterte, verstand sich von selbst. Am bekanntesten ist „Die Felsenmühle“. Wagner schätzte Reißigers (allerdings auch nicht sehr bedeutende) Opern nicht und protestierte zum Beispiel gegen die Aufführung der Reißiger-Oper „Der Schiffbruch der Medusa“. Aber Dramaturg Karl Gutzkow, ein Freund und Verehrer Reißigers, tat seinerseits alles, dass das Werk dem Dresdener Publikum nicht vorenthalten werde. In seiner Eigenschaft als Dramaturg konnte er seinen Einfluss in dieser Beziehung geltend machen. Gutzkow, der nicht nur eine scharfe Feder führte, sondern auch eine scharfe Zunge besaß, leistete sich einmal in Gesellschaft einiger Freunde den Scherz, „daß der Komponist des Rienzi, Holländer und Tannhäuser durch seine Erfolge so eitel geworden sei, daß er bei dem jüngsten starken Gewitter in seinem Zimmer niedergekniet und gebetet habe: „Gott erhalte mich den Deutschen.“ Natürlich wurde diese Medisance Wagner brühwarm hinterbracht.“ Wagner beschwerte sich bei dem Generaldirektor über den Dramaturgen und dessen Ungerechtigkeit bei der Aufstellung des Repertoirs und Gutzkow versprach hoch und heilig, demnächst den „Tannhäuser“ zu berücksichtigen. Als aber später Wagner auf seinem Schreibtisch das neue Repertoire vorfand, gab es wieder keinen Termin für den „Tannhäuser“, während Reißigers „Schiffbruch der Medusa“ mehrmals zur Aufführung angesetzt war. Wagner schrieb erbost auf das betreffende Repertoireblatt den nachstehenden Vierzeiler: 

„Es ändere, sagt eine alte Kunde

Der Mensch sich stets nach sieben Jahren.

Doch Täuschung ist’s: ich hab’s erfahren,

Es ändert sich Herr Gutzkow jede Stunde.      Richard Wagner“

Das von ihm unterzeichnete Repertoire sandte Richard Wagner mit seinem Epigramm dem Dramaturgen zu. Als dieser es gelesen hatte, schrieb er darunter: 

            „Die kleinen Kinder sind die schlimmsten nimmer.

Die Großen, wenn sie boshaft, sind viel schlimmer.     Karl Gutzkow“

Hierauf übermittelte er das Repertoire mit dem Antwortepigramm und einem Anschreiben an den Dichterkomponisten, bemerkend, dass die vollständige Unterschrift des Herrn Kapellmeisters auf dem Repertoire fehle und er daher bitten möchte, dieselbe nachzuholen. Richard Wagner las, unterzeichnete das Repertoire und antwortete darauf: 

            „Wenn stumpfe Dolche von Neid boshaft uns erreichen, 

            muß man sie mit der Rute der Verachtung streichen.     Richard Wagner“

Seit diesem Versduell waren und blieben sich beide spinnefeind, und nie erfolgte eine Aussöhnung zwischen ihnen. 

Ein arger Riss kam dann in die Kollegialität zwischen Reißiger und Wagner, als letzterer es durchsetzte, dass Beethovens Neunte Symphonie zur Aufführung kam. Reißiger hatte zwar im Jahre 1838 dieses grandiose Werk Beethovens in Dresden zu Gehör gebracht, im Palais des Großen Gartens, mit gutem Erfolg, und es gab noch eine zweite Aufführung zum Besten der Armen im Königlichen Hoftheater. Aber das Publikum wie auch Reißiger äußerten sich damals ungünstig über das Werk. Das zeigte sich in einem Kritiker-Bericht von 1838 in der Allgemeinen Musikzeitung, worin sich die Ansicht das damaligen Publikums widerspiegelt: „Die Musiker, die dieses Werk mit den Proben acht- oder zehnmal gehört haben, erklären es für Beethovens würdig. Ich zweifle keinen Augenblick daran, da ich es aber nur zweimal gehört habe, so hat es mich nicht so angesprochen, als die anderen herrlichen Sinfonien dieses Meisters, die einen gleich aufs erstemal entzücken. Gegen das Thema und die Behandlung des Chores in melodischer Hinsicht, sollte ich glauben, ließen sich auch bei öfterem Hören Einwendungen machen.“  Die Aufführung 1846 unter Richard Wagners Leitung brachte Reißiger in arge Verlegenheiten. Er beging, wie Wagner selbst in seiner Autobiographie schreibt, „die unglaubliche Torheit, beim Publikum völlig gegen die Symphonie zu intrigieren und auf das Bedauerliche der Verirrung Beethovens aufmerksam zu machen.“ Die Aufführungen der Neunten Sinfonie Beethovens in den Palmsonntagskonzerten der Jahre 1846, 1847 und 1849 hatten einen grandiosen Erfolg, durch welchen sich Wagners Ruhm steigerte.

Diese Blamage trug dazu bei, dass Reißigers Eifersucht wuchs. Nie wagte er es, in offener Feindschaft Wagner entgegenzutreten. Aber manchen Nadelstich führt er gegen ihn. Zum Beispiel studierte Wagner eine Oper Friedrich von Flotows ein, aber auf des Komponisten besonderen Wunsch dirigierte sie dann Reißiger!  Wie aber dieser besondere Wunsch zustande kam, sagte ein Brief Reißigers an Flotow vom 24. Mai 1845, in dem er mitteilt, dass sich die geplante Aufführung der Oper durch „eine seltsame Verkettung der Umstände“ verschieben wird, weil andere Opern ins Repertoire aufgenommen wurden, die Wagner einzustudieren hätte. Reißiger versichert: „… Was mich betrifft, so dürfen Sie wegen des Einstudierens gewiß außer Sorge seyn. Ich habe Ihre Musik von jeher geliebt und bewundert, und habe sie so in mich hineingelebt, daß ich nicht fehlzugreifen glaube. […] Ich freue mich ungemein darauf, Sie hier zu sehen. Mit wahrer Hochachtung und der innigsten Theilnahme grüßt Sie herzlich Ihr C. Reißiger.“  Flotow wünscht daraufhin, dass Reißiger dirigiert …

Carl Gottlieb Reißiger erhielt anlässlich des 300-jährigen Bestehens des Königlichen Hoftheaters bei der Huldigung des Königs den höchsten Orden, den bis dahin je ein Musiker erhalten hatte, den Zivil-Verdienst-Orden. Wagner war sicher etwas neidisch, aber da er genug Beispiele erfahren musste, dass gerade der Hof seinen Kollegen Reißiger sehr geringschätzend behandelt hatte, so ging ihm die hohe „unerhörte Anerkennung“ doch zu Herzen. Dazu kam, dass das Publikum sich immer mehr auf die Seite Reißigers schlug. Bei dem erwähnten Jubiläumskonzert feierte man Reißiger, dessen Ouvertüre zu „Jelva“ er selbst dirigierte, enthusiastisch, während man dem jungen Kapellmeister Wagner, dessen erstes Finale aus „Lohengrin“ aus dem Manuskript gespielt wurde, nur lauen Beifall zollte.

Unmittelbar darauf übertrug der Intendant Reißiger die Direktion der Konzerte der Königlichen Kapelle, die allerdings von Wagner ins Leben gerufen worden waren.  Richard Wagner gingen die Zurücksetzungen sehr zu Herzen. Tief erbittert wurde er aber, als auf sein Ansuchen um 500 Taler Gehaltserhöhung, die ihm der König auch in Anbetracht seiner Geldnöte auch gewährte, erfuhr, welche Stellungnahme zu dem Bittbrief Generaldirektor von Lüttichau am 8. 2.1848 dem König gegeben hatte: „Wagner hat sich leider durch seinen früheren Aufenthalt in Paris eine so leichte Ansicht der Lebensverhältnisse angeeignet, daß er wohl nur durch so ernste Erfahrungen, wie er sie jetzt in seiner bedrängten Lage macht, davon geheilt werden kann, wenn er überhaupt noch aus derselben sich zu retten mag. Das Glück, welches ihm hier durch die Anstellung als Capellmeister mit 1500 Thaler Gehalt zu Theil wurde, verstand er nicht zu würdigen und die von vielen Seiten ihm gewordenen,  zum Theil übertriebenen Lobpreisungen über sein Talent und seine Compositionen bestärkten ihn nur noch mehr in seinen überspannten Ideen, so daß er sich ebenso große Erfolge und Gewinne von seinen Opern vorspiegelt  wie dem Meyerbeer und anderen Componisten in Paris und London allerdings zu Theil wurden,  was aber auf die Verhältnisse auf Deutschland nicht anzuwenden ist.“ Von Lüttichau führt weiterhin als Ursache für die Geldnöte die zu kostspielige Wohnungseinrichtung an, den ausbleibenden Erfolg der „Rienzi“-Aufführung in Berlin und Wagners Versuch, ohne Verleger seine Kompositionen selbst zu vermarkten.  Sollte man ihn aber nun gar nicht in seiner Lage unterstützen und Wagner für Dresden eventuell verlieren? Von Lüttichau lenkt etwas ein: „Auf die Frage nun, ob seine Erhaltung hier von so großem Werth, ihm so außerordentlichen Zuschuß zufließen zu lassen, muß ich allerdings gestehen, daß dies mit dem, was er bisher im Allgemeinen geleistet hat, wohl nicht im Verhältnis zu stehen scheint, jedoch ist ihm nicht auszusprechen, daß er in besonderen Fällen […] alle seine Kräfte anstrengt und einen Eifer an den Tag leget, der ihm nur zum Lobe gereichen kann und seinen Verlust beklagen ließe.“ Von Lüttichau schlägt dem König den Kompromiss vor, „dem Kapellmeister Wagner zur Erfüllung der von ihm erbetenen Summe 300 Thlr.(zu gewähren), jedoch nicht als Gehaltszulage, die ihn außerdem dem Capellmeister Reißiger, der viel längere Zeit dient, im Gehalt gleichstellen würde, sondern nur als Gratification zur Regulierung seiner Schulden aus dem Fond der außerordentlichen Capellausgaben, und 200 Thlr. als Zuschuß von dem Gesamtertrage der jährlichen Abonnementsconcerte allergnädigst bestimmt werden dürfe.“ Also keine Gehaltserhöhung, sondern ein einmaliger Zuschuss und eine gewisse Gewinnbeteiligung  – diese Lösung wird Wagner nicht zufriedengestellt haben. 

Zur Ehre Reißigers muss ausdrücklich betont werden, dass er allzeit bestrebt war, den von Wagners Seite oft genug drohenden Bruch zu verhüten. Für seine Unparteilichkeit und sein Wohlwollen spricht u. a. auch der Umstand, dass er im Jahr 1848, als zwischen dem Generaldirektor von Lüttichau und Richard Wagner bereits ernste Misshelligkeiten vorgekommen waren, sich eilig bemühte, die Sache wieder ins richtige Geleis zu bringen und Richard Wagner gleichsam goldene Brücken zu bauen. Am 2. Juli 1848 erbat sich Wagner, der an verschiedenen revolutionären Klubs teilgenommen hatte, einen sogenannten „Stadturlaub“, um, wie er sich ausdrückte, „sich an Leib und Seele zu stärken“. Doch stieß diese Bitte auf Schwierigkeiten, da Reißiger schon früher um einen Urlaub nachgesucht und ihn bewilligt erhalten hatte. Wagner bat in einem Brief Reißiger um Rücktritt von seinem Urlaub und erklärte sich bereit, nach seiner Rückkehr in den Dienst „zu einer neuen Geschäftsteilung die Hand zu bieten, nach welchem ihm (Reißiger) grundsätzlich der Dienst erleichtert werden soll, außerdem aber dann solange gänzlich für ihn einzutreten, als er es irgend verlangen mag.“ Reißiger zauderte keinen Augenblick, den Wunsch seines Amtsgenossen zu erfüllen. Gleich nach dem Empfang des Wagnerschen Briefes schrieb er an Herrn v. Lüttichau u. a.: „Wenn nun mein Kollege, wie er sich ausdrückt, nur in Gottes schöner, freier Natur, fern vom Weltgewühle, geistig und körperlich gesunden kann und nur durch die Verlängerung des Urlaubs Heilung möglich ist, so darf ich Ew. Exzellenz nicht länger um Vorenthaltung seines erbetenen Urlaubs angehen. Möge er in zwiefacher Hinsicht gesunden. Da ich minder krank als Wagner bin, so ist es meine Pflicht, unter diesen Umständen von meiner eigenen Kur abzustehen und eine Besserung meiner Lage einer günstigen Zeit zu überlassen.“

 In politischer Beziehung freilich konnte es keinen größeren Gegensatz als zwischen Wagner und  Reißiger geben. Wagner war eine radikal-revolutionäre Natur in der Kunst, im Leben wie in der Politik und Reißiger ein Konservativer und Royalist. Der Sohn Ludwig Reißiger, damals Bürgermeister in Königstein a. d. Elbe, erzählte, dass Wagner seinen Vater oft eingeladen habe, mit ihm in die Versammlungen des republikanischen Vaterlandsvereins in Dresden zu gehen und er dies stets ablehnte.  „So sei der Komponist des Rienzi fuchswild geworden und habe gegen seinen Kollegen zuweilen Ausdrücke gebraucht, die wir vergebens in Knigges Umgang mit Menschen suchen würden.“ Solche politischen Differenzen mussten natürlich dazu beitragen, den Gegensatz dieser beiden Männer noch mehr zu verschärfen. 

Bekannt ist, wie Wagner in den folgenden Monaten durch seine öffentlichen politischen Bekenntnisse in schwere Konflikte kam und wie seine Feinde die Verhältnisse nutzten, um ihn von seinem Amt zu bringen. Eine Deputation, an der Spitze Opernsänger Schuster, bat um Enthebung Wagners vom Dienst. Inwieweit sein Kollege Reißiger beteiligt war, der den Wunsch der Deputation guthieß, ist nicht bekannt geworden.  In dieser Zeit entstand Wagners „Entwurf einer Organisation eines deutschen Nationaltheaters“, den er direkt beim Minister Oberländer einreichte. Unvorsichtigerweise hatte Wagner ohne Vorwissen und Genehmigung der Generaldirektion die Mitglieder der Königlichen Musikkapelle zu einer Versammlung geladen, wo er in begeisterten Worten von besseren künftigen Zeiten sprach. Daraufhin kam es zu einer amtlichen Unterredung. „Unter den Kammermusikern gab es damals sicher auch manch ausgesprochene Republikaner, die mit den Ideen Wagners sympathisierten und es gern gesehen hätten, wenn auch der erste Hofkapellmeister Aufruhr gepredigt hätte, aber da sie wussten, dass das Herz Reißigers für sie und ihre Interessen schlägt, hielten sie treu bei ihm aus und waren ihm nach wie vor mit Sympathie zugetan.“ 

Das Verhältnis zu Reißiger und zum Intendanten von Lüttichau wurde Wagner unerträglich.  Er floh 1849 von Dresden ins Exil in die Schweiz, als er fürchtete, gerichtlich wegen seiner öffentlich ausgesprochenen politischen Gesinnung bestraft zu werden. Dass Reißiger die Flucht Wagners willkommen war, ist nach den dargelegten Verhältnissen offenbar. Nun braucht er die Konkurrenz nicht mehr zu fürchten. Dass er auch später kritisch auf Wagners musikalisches Schaffen  blickte, als von Weimar aus durch  die Aufführung von Wagners „Lohengrin“  unter Franz  Liszt neuer Ruhm des „kampflustigen Kollegen“ in die Welt ging, beweist ein Brief Reißigers vom 3. August 1854 an seinen Verleger C. F. Peters in Leipzig: Er hoffe auf politisch friedlichere Zeiten – „denn die musikalisch friedlichen werden […] noch lange nicht eintreten, es müssten denn die Niederlagen der  Liszt-Wagnerschen Clique Schlag auf Schlag erfolgen. Mich kümmert weder ihr Erfolg noch ihre Niederlage. Nur die Rückwirkung der dieser Schule huldigenden Satelliten auf den Geschmack ist bedauerlich. Das Gute können sie doch hier nicht vernichten! […] Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr Reißiger“.

Für die Objektivität Carl Gottlieb Reißigers spricht allerdings der Umstand, dass er schon drei Jahre nach dem Dresdener Maiaufstand, als noch beim sächsischen Hof und in vielen Bürgerkreisen der Groll über den „Revolutionär“ keineswegs verraucht war, den „Tannhäuser“ wieder auf die Szene zu bringen wagte. Unter seiner Leitung wurde in vorzüglicher Neueinstudierung am 26. Oktober 1852 „Tannhäuser“ in Dresden mit großem Erfolg zur Aufführung gebracht und so der Komponist wenigstens künstlerisch und moralisch rehabilitiert. Seit jener Zeit gehört der „Tannhäuser“ in das Repertoire des Dresdener Hoftheaters. Auch wurde im Jahre 1859, also im Todesjahr Reißigers, durch die Dresdener Generaldirektion Wagners „Lohengrin“ erworben und gegeben. 

Wie hoch Reißiger bis zu seinem Tode in Dresden angesehen war, zeigte sich anlässlich seines Ablebens. Einen Tag nach seinem Tode veröffentlichten die Mitglieder der Königlich- Sächsischen musikalischen Kapelle in den sächsischen Blättern einen sehr warmen Nachruf zu seinem Andenken, worin sie ihn als ihren „hochverehrten Meister und inniggeliebten langjährigen Führer“ bezeichneten. Alle Zeit werde alles Ruhmvolle seiner langen Führerschaft, alles Herrliche, was der Hochverdiente für die Kunst bewirkt und angestrebt und alle Liebe, die er der Kapelle bis zu seinem letzten Atemzug gewidmet habe, im Herzen und Gedächtnis der Orchestermitglieder fortleben. „Reißiger hat eben als Mensch viel Liebe gesäet und daher mußte er denn auch viel Liebe ernten.“

                                                                                              Monika Schwarz 

(Die Verfasserin dankt Frau Ingrid Mundil und Herrn René Jäck von der Reißiger Stiftung für die Anregung und Material zu diesem Text.  Informationen zur Reißiger-Stiftung: https://www.reissiger-stiftung.de )

Quellen: 

Johannes Reichelt: Richard Wagner und sein Kollege Reißiger. Mit unveröffentlichten Briefen Reißigers und Protokollen über Richard Wagner und anderem Material. AMZ 40/1913, S. 505-507

Dr. Adolf Kohut: Richard Wagner und Karl Gottlieb Reissiger. AMZ 37(1910), No.2. 14. Jan. 1910