Thea Labes
Eine sehr junge Frau kommt am 1. März 1957 in Belzig auf dem Bahnhof an. Mit einem Handwagen für ihr Hab und Gut wird sie von zwei Pfarrerskindern abgeholt.
Sie soll also die neue Kirchenmusikerin an der St. Marienkirche zu Belzig sein?
Bisher war das ein Amt von Männern. Wird diese noch nicht einmal 20jährige Frau in die Erwartungen und Anforderungen eines solchen Amtes passen?
Klein ist sie, aber voller Energie. Ein tief in ihr verwurzelter Drang zu musizieren, treibt sie – in einem ungewöhnlichen Zusammenspiel von Eigenwilligkeit und Demut. Die ihr anvertrauten Talente vergräbt sie nicht und lebt nach dem von Heinrich Schütz gesungenen Psalmvers, den sie selbst gern singt oder singen lässt: „Eins bitte ich vom Herren, das hätte ich gern, das ich im Hause des Herrn möge bleiben ein Leben lang.“
Thea Labes, am 21. März 1937 in Stralsund geboren, war zum Zeitpunkt ihres Dienstbeginns 19 Jahre alt.
Gekommen war sie mit unerschütterlicher Entschlossenheit, Kirchenmusik zu ihrem Lebensinhalt zu machen, gegen den Willen ihres Vaters. Er hielt das für brotlose Kunst und sah einen ständigen Streit mit den jeweiligen Pfarrern vorprogrammiert. Zudem konnte in der den Sozialismus aufbauenden Gesellschaft eine Mitarbeiterin in der Kirchengemeinde kaum auf öffentliche Anerkennung hoffen.
Thea Labes hatte ein volles Kirchenmusikstudium hinter sich und ging davon aus, höchstens ein Jahr in Belzig zu verbringen. Hübsch war es ja hier, fand sie und machte sich, ohne dies zu ahnen, auf den Weg zu ihrer 54 Jahre währenden Tätigkeit in dieser kleinen Stadt.
Wie konnte eine so junge Frau schon fertig sein mit einem Studium, das immerhin 4 Jahre dauert?
In einem handschriftlich vorliegenden Lebenslauf schreibt sie dazu:
„Nachdem meine Mutter und ich die Kriegsjahre in Augustwalde bei Stettin verbrachten, wo mein Großvater, der Kirchenmusikdirektor Gottlob Labes, ehemals Organist an St. Jacobi in Stettin, im Ruhestand lebte, kehrten wir 1945 nach Stralsund zurück. Dort besuchte ich die Schule bis zum Abschluß des 8. Schuljahres. Im Herbst 1952 begann ich das Studium der Kirchenmusik am Seminar für evangelische Kirchenmusik in Greifswald.“
Als sie zu studieren begann, war sie also 15 Jahre alt!
Nach 8 Jahren hatte sie genug von der Schule: Trotz lauter Einsen wollte sie kein Abitur zu machen, obwohl ihr Vater drohte, sie rauszuwerfen, wenn sie nicht weiter zur Schule gehen würde. Doch sie wusste, was sie wollte und dazu gehörte, dass sie sich nicht beugte.
Musikmachen war ihr in die Wiege gelegt. Aus ihrer eigenen Sicht konnte es gar nicht anders sein: Das Erbe ihres kirchenmusikalischen Großvaters traf zusammen mit ihrem besonderen Geburtsdatum, dem Geburtstag von Johann Sebastian Bach. Das beides, fand sie, genügte zur Begründung für ihre Neigung.
Aus eigenem Entschluss und ohne väterliche Unterstützung begab sie sich zum Greifswalder Seminar für Kirchenmusik.
In ihrem Lebenslauf schreibt sie weiter: „Im Frühjahr 1954 wechselte ich nach Dresden über. Dort legte ich 1956 die B-Prüfung an der Kirchenmusikschule der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens ab. Seit dem 1. März 1957 bin ich als erster hauptamtlicher Kirchenmusiker in Belzig“.
Konnte sie ahnen, welch guten Start es für sie in der kleinen Stadt im Fläming geben würde? – Der ab 1958 in Belzig amtierende Superintendent Günter Krolzig war ausgesprochen aufgeschlossen für alle musikalischen Aktivitäten und Vorhaben dieser jungen Frau. Seine Tochter, Anneliese Krolzig, hatte ebenfalls aus Liebe zur Musik eine musikalische Ausbildung absolviert – als Sopransängerin.
Sehr schnell befreundeten sich die beiden jungen Frauen, musizierten und planten gemeinsam.
Thea Labes lebte wie eine weitere Tochter in der Superintendentur-Wohnung der Familie Krolzig. „Vater“ und „Mutter“ Krolzig nahmen sie „mit menschlicher Größe“ wohlwollend und unterstützend auf.
Das erste Jahrzehnt in Belzig war eng verbunden mit dieser Familie Krolzig.
Über ihre Aktivitäten in diesem Zeitraum schreibt sie in dem bereits erwähnten Lebenslauf:
„Kirchenmusikalisches Leben mußte sich erst entwickeln und aufgebaut werden. Ein Bläserchor war vorhanden. Anderes ist neu entstanden: Eine nicht große, aber treue und einsatzfähige und –bereite Kantorei.
Die regelmäßige Veranstaltung von Kirchenmusiken, anfangs alle zwei Monate, in den letzten Jahren monatlich, abwechselnd in Kirche und Gemeindehaus; darunter 1966 die Schöpfung von Joseph Haydn, 1967 der Messias von Georg Friedrich Händel, 1968 mehrchörige Psalmen von Heinrich Schütz.
Seit 1961 musikalisch ausgestaltete Wochenschlußandachten von Ostern bis Ewigkeitssonntag.
Die Bläserarbeit konnte erweitert werden, nicht nur in Belzig, sondern auch im Kirchenkreis; einmal im Jahr findet eine Bläserrüste für alle Bläser des Kirchenkreises statt.
1960 wurde mir infolge einer Generalkirchenvisitation das Amt des Kreiskirchenmusikwarts übertragen. 1962 wurde mir der Titel Kantor verliehen.“
Was in der knappen Zusammenfassung eines Lebenslaufes so leicht klingt, war eine Tätigkeit, zu der viele Schritte und Mühen gehörten. Auf den verschiedensten Ebenen galt es, menschliche Kontakte herzustellen, sie zu intensivieren, zu halten. Zeit für Planungen, Absprachen, Proben brauchte es. Noten mussten gesucht, besorgt, bereitgestellt werden.
Thea Labes machte sich auf, Menschen zu finden, die Lust hatten zu singen und zu blasen, die sich durch sie gern musikalisch lehren und leiten ließen. Sie brauchte Interessierte, die kamen, um die Musik zu hören, die Geld spendeten, damit diese Arbeit finanziert werden konnte.
Das Blasen auf einem Blechblasinstrument musste Thea Labes selbst erst lernen. Darin wurde sie so wendig, dass sie – während sie auf ihrem Tenorhorn blies – zugleich unzählige Bläserproben und Auftritte dirigierte.
Oratorien und Instrumentalmusiken wollte sie aufführen. Dazu suchte sie Musiker und Musikerinnen, die in der Lage waren, ein Soloinstrument zu spielen oder ein kleines bzw. größeres Orchester miteinander zu bilden. Auf den verschiedensten Wegen lud sie professionell und als Laien musizierfreudige Menschen ein, die nach Belzig kamen: aus Potsdam vom DEFA-Orchester, aus Brandenburg, aus Dessau, aus Halle, aus Leipzig und wer weiß, wo noch her. Solch eine Suche war eine lebenslange Aufgabe, einige von ihnen musizierten viele Jahre mit ihr, andere kamen und gingen. Wieviel Hunderte von Menschen, die mit ihr sangen und Musik machten, die sie auf die vielfältigste Weise unterstützten, mögen es gewesen sein! – Bekannte Musiker und Musikerinnen waren ebenso dabei, wie ganz einfache Leute, die von sich glaubten, gar nicht singen zu können. Thea Labes dagegen war überzeugt: „Singen ist ohne Frage unsere natürlichste Art, sich zu äußern, an kleinen Kindern zu merken, die ihre ersten Laute alle irgendwie singend von sich geben, und die meisten Kinder singen, ehe sie sprechen können.“ (Zitat nach dem ORB Film „Traum von Jerusalem“, 2001).
In den 60iger Jahren hatte „Zirkus Hein“ sein Winterquartier in Belzig. Beide, Thea Labes und Anneliese Krolzig, fanden zu der alten Zirkusdirektorin Hein eine sehr herzliche Beziehung und gewannen in deren Enkel einen Mitbläser und lebenslangen Freund. Ein wichtiger Begleiter wurde der Hund, den Thea Labes und Anneliese Krolzig vom Zirkus mitnehmen durften. Passend zum Zirkusnamen nannten sie ihn „Heino“. Lange Jahre gehörte er unbedingt dazu, besuchte sogar Gottesdienste, fuhr im Auto mit und liebte wie seine beiden Besitzerinnen die Musik. Einen Hund gab es nach Heino nicht mehr, aber verschiedene Katzen gehörten zum Leben der beiden Frauen, mit besonderen Namen wie Papillon, Charlie, Kerlchen.
Kontakte entstanden zu KünstlerInnen in Nähe und Ferne. So konnten Thea Labes und Anneliese Krolzig beispielsweise regelmäßig in der Handweberei von Henni Jaensch in Geltow musizieren, und die Handweberin besuchte ihrerseits, so oft es ihr möglich war, kirchenmusikalische Veranstaltungen in Belzig.
Ihren Urlaub verbrachten die beiden Frauen viele Jahre bei Doris Oberländer, der Bildhauerin, deren Hauptwerk die Innengestaltung der Ahrenshooper Schifferkirche war. Wenn Thea Labes dort am Strand spazieren ging, erinnerte sie die Ostsee an ihre Kindheit. Sie liebte es, Steine zu sammeln. Ohne besondere Anstrengung fand sie Seeigel, Klappersteine, Donnerkeile, Bernsteine oder Hühnergötter. In ihrer Wohnung konnte man die vielen Fundstücke sehen. Über Doris Oberländer sagte Thea Labes, sie sei für sie eine mütterliche Freundin gewesen. Als die Bildhauerin im Jahr 1989 starb, war es Thea Labes, die mit ihrer kunstvollen Schrift den Grabstein mit einem Vers aus dem Johannesevangelium: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen“ gestaltete.
Eine ausgesprochen sichere Hand besaß Thea Labes für Schrift und Bild. Schon allein Briefe von ihr sahen aus wie kleine Kunstwerke. In der Hauptsache diente ihr dieses Talent – möglicherweise ein Erbteil mütterlicherseits (der Bruder ihrer Mutter, Bernhard Heiliger, war Bildhauer und Professor an der Kunsthochschule in Westberlin) – zur Gestaltung von Plakaten für ihre Konzerte. Anneliese Krolzig hatte angeregt, sich für Einladungen zu Konzerten etwas einfallen zu lassen. Thea Labes erzählte: „So kam es, dass wir einige Plakate gemeinsam entwickelten, bis Anneliese Krolzig eines Tages meinte, es sei besser, wenn ich nun allein weitermachte. Das tat ich zunächst ungern, aber je länger, desto lieber, und ich fand es reizvoll, interessant und schön, etwas von der Musik und von unseren, meinen Vorstellungen auch grafisch auszudrücken. Je besser mir das gelang, umso mehr Ideen ergaben sich dann noch sozusagen von selbst, ohne mein Zutun. Die nötige Zeit und Ruhe für diese Arbeit habe ich in den ganz frühen Morgenstunden gefunden. Erschwerend kam hinzu, dass fast alles, was man dafür brauchte, Mangelware war – Papier, Pappe, Pinsel, Farbe – und es gab keine Vervielfältigungsmöglichkeiten, das heißt, wenn man ein Plakat zehnmal haben wollte, musste man es eben zehnmal schreiben bzw. malen. Und wer ein solches Plakat aushängte, musste dann auch mit Schwierigkeiten rechnen.“ (Zitat nach dem Begleitheft zum ORB Film „Traum von Jerusalem“, 2001).
Thea Labes entwarf und vervielfältigte unzählige Plakate. Bleibende Zeugnisse sind diese von den vielen aufgeführten Musikwerken, von den Namen der Musizierenden, von den Daten der Aufführungen. Der gemeinsame Geburtstag von Thea Labes mit Johann Sebastian Bach zeigt sich auf den Plakaten mehrfach als ein beliebtes Datum für ein Konzert. Und ebenso finden sich Werke dieses Komponisten besonders zahlreich auf den Plakaten.
1968 übersiedelte der nunmehr in den Ruhestand verabschiedete Superintendent Krolzig mit seiner Frau nach Westdeutschland.
So zogen Thea Labes und Anneliese Krolzig nun ebenfalls aus der Superintendentur-Wohnung aus und rückten dem großen, aber doch zu jener Zeit recht unbekannten Sohn der Stadt ein Stück näher.
Denn von nun an wohnten sie im Geburtshaus des Carl Gottlieb Reissiger. Hier fanden die von Thea Labes gestalteten Plakate für Konzerte aus den vergangenen und kommenden Jahren einen exponierten Platz, wiesen den Weg zu ihrer Wohnung und füllten nach und nach das ganze Treppenhaus.
Reißiger oder Reissiger – welche Schreibweise ist die richtige? – Beide werden gebraucht, und in bestimmten Zusammenhängen ist die mit „ß“ und in anderen die mit „ss“ die „richtige“ Schreibweise. Ursprünglich war es: Reissiger. Eine Erklärung für die beiden Varianten kann die Tatsache sein, dass in der deutschen Kurrentschrift ein lang und ein kurz gesprochenes „s“ verschiedene Formen hatten. Beim Verdoppeln des Buchstabens „s“ wurden das lange und das kurze „s“ eng miteinander verbunden, so dass sie wie ein ß aussahen. Die nach dem Komponisten benannte Straße und sein Geburtshaus werden mit „ß“ geschrieben, ebenso Zitate und die Bezeichnungen von Gesellschaft und Stiftung.
Durch das „Reißigerhaus“ und durch die „Reißigerstraße“ wurde der Name „Reißiger“ in Belzig zwar häufig genannt, aber was er getan hatte, war wenig bekannt.
Anders bei „Vater“ Krolzig! – Er wusste, dass es sich lohnen würde, sich für den Belziger Sohn Carl Gottlieb Reissiger genauer zu interessieren. 1798 – in dem 60 Jahre zuvor gebauten Haus am Belziger Kirchplatz – als Kantorssohn geboren, führte Reissigers musikalischer Weg bis in das Amt des Hofkapellmeisters in Dresden, das er bis zu seinem Tod 1859 innehatte. Von jungen Jahren an hatte Reissiger komponiert, geistliche und weltliche Werke, die zur Epoche der Romantik des 19. Jahrhunderts gehören.
Superintendent Krolzig hatte Thea Labes von Anfang an zugeredet, sich mit dem musikalischen Sohn Belzigs zu beschäftigen. Diesem Rat folgte sie jedoch zunächst gar nicht. Sie sagte, dass sie, jung wie sie war, zur Opposition neigte und gerade das, was man ihr nahelegte, nicht tun wollte. Dazu kam, dass das Kirchenmusikstudium an der Romantik wenig Interesse geweckt hatte.
Die musikalischen Neigungen von Thea Labes gingen im zweiten Jahrzehnt ihrer Tätigkeit in Belzig eher in die entgegengesetzte Epoche, sie wandte sich mit großem Engagement der Renaissance- Musik des 16. und 17. Jahrhunderts zu: Ihre Plakate zeugen durch viele Jahre von Konzerten mit dem Titel „Alte Musik auf Historischen Instrumenten“.
Thea Labes und Anneliese Krolzig lebten noch nicht lange im Reißiger-Haus, als die 18jährige Ingrid Kaspar zu ihnen zog. Von dieser Zeit erzählt sie heute: „Ich habe 1968 / 69 fast ein ganzes Jahr bei Thea und Anneliese gewohnt. Als ich mit ein paar Sachen und Nachthemd spontan vor der Tür stand, wurde ich sofort aufgenommen. Ich habe dort fast alles gelernt, was für das Leben wichtig ist und hörte zum ersten Mal den Satz: ‚Das hast du aber gut gemacht, Kind.‘“ Ingrid Mundil, geb. Kaspar wurde den beiden Frauen lieb wie ein eigenes Kind.
Und im Laufe der Jahre gab es immer wieder Kinder, die von beiden, Thea Labes und Anneliese Krolzig, im Musizieren begleitet und durch die entstehende Vertrautheit in gewisser Weise als „ihre Kinder“ angesehen wurden.
„Ceciderunt in profundum summus Aristoteles, Plato et Euripides.“ – ausgerechnet die „Schulmeisterkantate“ von Georg Philipp Telemann suchte Thea Labes aus, um mit den Kindern des neuen Belziger Superintendenten, zu denen auch ich gehörte, einen Kinderchor zu gründen. Dabei war Schule für sie doch ein rotes Tuch gewesen. Sie ließ sich nicht gern von jemandem gängeln oder gar die Eselsmaske aufsetzen, wie es der Schulmeister in der Kantate tut. – Aber die Töne, die Musik, die liebte sie und wollte sie vermitteln. Und eine Lehrende war sie für viele Kleine und Große in einer ganz besonderen und sehr intensiven Form, klar und bisweilen streng, durchaus nicht immer sanft, aber dann auch wieder humorvoll, unterstützend und zugewandt.
Spielend lernten wir und viele Kinder nach uns: Tonabstände zu hören, Noten zu lesen und vom Blatt zu singen. Töne sollten leicht und locker aus dem Mund kullern, das „r“ sollte richtig gerollt, die
Wörter und Sätze deutlich artikuliert werden. Das Atmen sollte bewusst geschehen und die gesungenen Töne stützen. Zum Singen gehört Mut, sagte Thea Labes, und diesen vermittelte sie leicht und selbstverständlich.
Bald brachte sie uns auch das Trompete-Spielen bei. Oft nahm sie sich mehrfach in der Woche für Kinder Zeit. Wir lernten Psalmen und Lieder aus dem Gesangbuch, biblische Geschichten, die vertont waren in Text und Melodie. Thea Labes hat sie tief in uns hineingelegt.
Unermüdlich hielt sie daran fest, Sonnabend für Sonnabend auf den Kirchturm der St. Marienkirche zu steigen, bei Wind und Wetter, Silvester und am frühen Ostermorgen um 6 Uhr, um die zu den jeweiligen Zeiten gehörenden Choräle zu blasen, zuweilen nach Sätzen, die sie passgenau für ihren Bläserchor geschrieben hatte. Auf den Einwand, das Blasen zu Silvester würde bei dem ganzen Raketenknallen doch niemand hören, entgegnete sie nur: „Oben hört uns einer!“
Fand sich niemand zum Mitblasen, tat sie es ganz allein.
In ihrem feuerwehrroten Trabant nahm Thea Labes Kinder mit auf Fahrten zum Singen und Blasen von Konzerten in den verschiedensten Orten im ganzen Land. Nach der Wende fuhr sie mit ihrem Kinderchor zur Partnergemeinde in Holland. Zum Advent gehörte das Musizieren in eiskalten Dorfkirchen des Flämings. Als zum Bläserchor sowie zur Kantorei auch Mitglieder der katholischen Gemeinde dazu kamen, wurde es selbstverständlich, dass sie zusätzliche Auftritte in der katholischen Kirche organisierte.
Thea Labes lud im Anschluss an viele Konzerte ein zu wunderbaren, unkonventionellen und überaus interessanten Feiern mit unterhaltsamen Menschen in ihrer Wohnung, wo Anneliese Krolzig als vorzügliche Gastgeberin mit Leckereien aufwartete, die nur sie kochen konnte. Im Stadtgraben, der von ihrem Garten aus zu erreichen war, wurde gegessen und getrunken, gesungen und gelacht.
Lebhaft sehe ich sie vor mir, verschmitzt lächelnd mit verschlungenen Beinen dastehend, wie es außer ihr keiner konnte, dabei Karo-Zigaretten rauchend. Sie hatte ihre ganz besonderen Gewohnheiten und Eigenheiten. Karo-Zigarettenschachteln zerschnitt sie sorgfältig und schrieb darauf Notizen. Marmelade aß sie nicht auf Brot, sondern mit dem Löffel aus dem Glas. Sie brauchte eine Zeit unbedingter Ungestörtheit und stand deshalb morgens oft vor 4 Uhr auf, um sich an ihre Arbeit zu setzen.
Was mit Musik zusammenhing, weckte ihre Aktivität. Was dagegen sprach, fiel ihr schwer zu akzeptieren. Manches konnte und wollte sie nicht tun, erwartete dann, dass andere für sie einsprangen. So gab es auch immer wieder Menschen, die gar nicht oder nur eine Zeit lang mit ihrer Art klar kamen.
Im Jahr 1979 starb der ehemalige Superintendent Günter Krolzig, der so sehr zur Beschäftigung mit Reissiger geraten hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt war allenfalls ein winziger Anfang hierfür zu bemerken. Die Konzert-Plakate zeugen von wenigstens zwei Konzerten mit Liedern von Reissiger.
Immer noch standen andere Projekte im Vordergrund, so zum Beispiel die internationale Ehrung des spanischen Komponisten Antonio Soler (1729 bis 1783), an welcher Thea Labes sich im Jahr 1980 mit drei Konzerten beteiligte.
Doch dann, im dritten Jahrzehnt ihrer Tätigkeit in Belzig, in den 80iger Jahren begann die Saat der Worte ihres ehemaligen Superintendenten aufzugehen. Anneliese Krolzig schreibt 1999 im Vorwort des gedruckten Klavierauszuges für das „David-Oratorium“ von Carl-Gottlieb Reissiger (Dohr-Verlag): „Die Dissertation von Kurt Kreiser aus dem Jahre 1918 wies uns einen Weg, dann versuchten wir noch vorhandene Drucke zu kaufen, das ergab erstaunlicherweise wenig, obwohl Kreiser behauptet,
Reißiger sei der meistgedruckte Komponist des 19. Jahrhunderts gewesen. Sehr aufschlussreich für uns war der bei Kreiser abgedruckte Vertrag Reißigers, in dem er verpflichtet wurde, neben den Aufgaben an der Oper Musik für die die festlichen Gottesdienste der Hofkirche zu komponieren und aufzuführen. Offenbar war dieser Zweig seiner Arbeit dem Kantorssohn, der seine musikalische Grundausbildung als Thomasschüler in Leipzig erhalten hatte, ein besonderes Herzensanliegen.“
In der genannten Dissertation von Kurt Kreiser über „Carl Gottlieb Reissiger. Sein Leben nebst einigen Beiträgen zur Geschichte des Konzertwesens in Dresden“ ist im Anhang neben den weltlichen auch von den kirchenmusikalischen Kompositionen zu lesen. Mehrere Messen, Motetten, geistliche Lieder, Psalmvertonungen, Gradualien, Offertorien sowie ein Requiem und als vermutlich größtes Werk ein Oratorium mit dem Titel „David. Oratorium in zwei Teilen nach Worten der Heiligen Schrift“ sind aufgelistet. Über das 1851 komponierte Oratorium schreibt Kreiser: „Manuskripte von Partitur und Klavierauszug sollen nach Amerika entwendet sein“.
Nach geistlichen Werken von Reissiger, die anders als die weltlichen Werke nicht gedruckt aufzufinden waren, machte Thea Labes sich auf die Suche. Sie fuhr nach Dresden in die Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek. Was sie entdeckte, waren Kompositionen, deren wunderschöne, temperamentvolle Musik sie in den Bann zogen. Zu ihrer Überraschung konnte dieser Komponist der Romantik Fugen schreiben, was in seiner Zeit überhaupt nicht selbstverständlich war.
„Wir heben ein versunkenes Schiff“, so beschreibt es Anneliese Krolzig im Vorwort zum „David- Oratorium“. Hinter dem „wir“ stehen neben Thea Labes als „Triebfeder und Antriebskraft“, der Dresdner Kreuzkantor Ulrich Schicha (1934-1993), ein Freund, mit dem Thea Labes seit dem Studium verbunden war und immer wieder gemeinsame Konzerte aufgeführt hatte, Anneliese Krolzig und schließlich all die vielen, die in irgendeiner Form an der Wiederaufführung geistlicher Werke von Reissiger beteiligt waren und sind.
Die größte Herausforderung bestand darin, dass die Noten nicht ausgeliehen werden konnten. Sie mussten vor Ort bzw. von einer Aufnahme auf einem Mikrofilm abgeschrieben werden. Mühsam war es, die alten, zuweilen schwer leserlichen Handschriften zu entziffern. Und dann musste nochmal und nochmal abgeschrieben werden. Kopierer, die heute zur Vervielfältigung so selbstverständlich sind, gab es nicht. Instrumentalstimmen und Chorpartituren brauchten alle, die mitmusizieren würden. Thea Labes verteilte Aufgaben an viele Menschen in ihrer Umgebung. Die Gesamtpartituren schrieb sie selbst und lernte sie für das Dirigat regelrecht auswendig. Für 4 Minuten Aufführungsdauer, so hat sie es ausgerechnet, brauchte es alles in allem 100 Stunden Schreibarbeit.
Wer sich Thea Labes im Jahr 1984 anschauen möchte, findet sie erstaunlicherweise in einem Jugendfilm der DEFA mit dem Titel „Ich liebe Victor“, ein Fernsehfilm des DDR-Fernsehens. Es muss jemanden gegeben haben, der Interesse hatte, Thea Labes und ihr Orgelspiel in diesem Film zu zeigen. Den Ausschnitt mit ihr kann man von der 39. bis zur 41. Filmminute sehen. Sie spielt auf der Papeniusorgel in der St. Marienkirche und erzählt dem Filmhelden Victor von ihrem beruflichen Leben in Belzig.
Das erste große Werk von Carl Gottlieb Reissiger, das sie mit Chor und Orchester (in welchem sie Bläser aus ihrem eigenen Bläserchor mitspielen ließ) einstudierte, war die „Missa solemnis d moll“ aus dem Jahre 1827, eine besonders feierliche Vertonung der gottesdienstlichen Messe mit feststehenden Teilen der lateinischen Liturgie. In den Proben legte Thea Labes großen Wert darauf, den lateinischen Text zu übersetzen, ihn zu erklären, beim Musizieren zu interpretieren und den geistlichen Charakter zu erfassen. Sie betonte, wie wichtig es sei nachzuempfinden, was der Komponist gemeint haben könnte. In einer intensiven und lang anhaltenden Beschäftigung mit einem Stück lässt sich, so meinte sie, immer wieder Neues entdecken.
Nach vollendeter Notenschreibarbeit und vielen Proben mit dem Chor war es endlich soweit:
Am 17. Juni 1984 um 17 Uhr wurde in der vollen St. Marienkirche zu Belzig die „Missa solemnis“ von Carl Gottlieb Reissiger nach ausschließlich handgeschriebenen Noten unter der Leitung von Thea Labes musiziert.
Nach der unglaublich intensiven Arbeitsphase schien es genug: „Nie wieder, haben wir uns am Konzertabend geschworen … und saßen doch schon am nächsten Morgen bereits wieder im Dresdner Archiv“ (Zitat nach „Die Märkische“ 21./22. November 2009). Anneliese Krolzig schreibt im Vorwort zum „David-Oratorium“: „Wir infizierten uns am ‚Reißiger-Bazillus‘“.
In Dresden wartete eine sensationelle Überraschung: das verloren geglaubte Oratorium „David“ existierte doch! In der Landesbibliothek! Erneut wurde geschrieben, geschrieben und geschrieben.
Drei Jahre nach der „Missa solemnis“ erklang zum zweiten Mal in Belzig ein großes Werk von Carl Gottlieb Reissiger. Vermutlich war es bis dahin nur ein einziges Mal durch den Komponisten selbst im Jahr 1852 aufgeführt worden. Nun wurde das so lange Zeit verloren geglaubte Oratorium „David“ am 20. Juni 1987 in Belzig aufgeführt.
Neben der Kantorei der Kirchengemeinde rief Thea Labes eine zu besonderen Probenzeiten zusammen kommende Reißigerkantorei ins Leben, die sich traf, um ausschließlich Werke des in Belzig geborenen Komponisten zu erarbeiten und aufzuführen.
Das vierte Jahrzehnt der Tätigkeit von Thea Labes mündete in die Wende, die kam und so manches wendete, das vorher gar nicht möglich schien. Plötzlich gab es ein bisher nicht erlebtes Interesse der Zeitung, der Stadt, der Öffentlichkeit für das Tun der Kirchenmusikerin von Belzig.
Eine erneute Aufführung der „Missa solemnis“ im Jahr 1993 konnte bereichert werden mit dem Erklingen einer Sinfonie von Carl Gottlieb Reissiger, für welche Noten aus der Berliner Staatsbibliothek entliehen wurden. Kurz nach diesem Konzert erreichte Thea Labes ein überraschendes Angebot des Musikverlegers Manfred Fensterer. Er wollte die handgeschriebenen Noten in Druck setzen. Der Wunsch nach Veröffentlichung der mit so viel Einsatz von Hand abgeschriebenen Reissiger-Werke – vor der Wende undenkbar – rückte in greifbare Nähe. Nach dem Tod von Manfred Fensterer wurde dessen Verlag von Christoph Dohr übernommen und durch ihn der Druck von kirchenmusikalischen Werken Reissigers fortgesetzt.
„Nach einem Aufruf in der Zeitung fand sich 1994 der David-Chor zusammen, der mit der Reißiger- Kantorei aus 65 Sängerinnen und Sängern aus Belzig und Umgebung besteht … Das Besondere daran ist, dass hierbei Religion jede und keine Rolle spielt. Katholiken, Protestanten und Konfessionslose stehen gemeinsam auf der Chortreppe … verbunden im durchaus sehr individuellen Glücks- und Hoffnungsempfinden, das ihnen die Musik Reißigers beschert“, schreibt Anneliese Krolzig 1999 (Zitat nach dem Begleitheft zum ORB Film „Traum von Jerusalem“, 2001).
Anlässlich des 1000jährigen Jubiläums der Stadt Belzig im Jahr 1997 kam es am 23. August zu einer weiteren Wiederaufführung des Oratoriums „David“.
Die Idee der Gründung einer „Reißiger-Gesellschaft“ wurde an Thea Labes herangetragen und Schritt für Schritt vorbereitet. Beim Heben des „versunkenen Schiffes“, in der Beschäftigung mit der biblischen Davidgeschichte und deren besonderer Umsetzung im Oratorium von Carl Gottlieb Reissiger entfaltete sich wie eine zarte Blume der „Traum von Jerusalem“. Gedacht war mit diesem „Traum“ daran, dass das „David-Oratorium“ als ein Geschenk in die Stadt gebracht werden sollte, wo die Geschichte des Königs David ihren Ursprung hat.
Im Jahr 2001 entstand unter der Regie von Günter Jordan eine Film-Dokumentation über die Wiederentdeckung des Oratoriums bis zur Aufführung. Darin ist Thea Labes zu sehen beim Proben
mit dem Chor, sie spricht über ihre Aufbrüche, über ihr Verständnis von Singen und Musik im Allgemeinen sowie über Reissiger und was sie an ihm schätzen gelernt hat. Auch Anneliese Krolzig ist zu sehen und zu hören mit begründenden Gedanken zu dem „Traum von Jerusalem“. Fasziniert betont sie die Versöhnungsangebote zwischen Christen und Juden, zwischen Katholiken und Protestanten, die sie im „David-Oratorium“ entdeckt hat.
Einen langen Atem brauchte der David-Chor, bis er das „David-Oratorium“ von Reissiger tatsächlich nach Jerusalem bringen konnte. Mehr als ein Jahrzehnt sollte darüber vergehen, nämlich das fünfte Jahrzehnt der Tätigkeit von Thea Labes, das einerseits von Abschied, andererseits von neuen Aktivitäten für Carl Gottlieb Reissiger geprägt war.
Im Juni 2002 wurde Thea Labes aus ihrem Amt als Kirchenmusikerin in den Ruhestand verabschiedet. 45 Dienstjahre lagen hinter ihr. Mit einem Gottesdienst, Musik und Reden, mit einer Extravorstellung des Zirkus Hein und einem bunten Treiben auf dem Kirchplatz wurde ihr Ausscheiden aus dem Dienst gefeiert. Was nun kam, war allerdings alles andere als Ruhe. Eine Art Niemals-Ruhestand begann.
Ein halbes Jahr nach ihrem Abschied, zu Beginn des Jahres 2003, war es soweit, dass die „Reißiger- Gesellschaft“ gegründet wurde. Somit wurde die Pflege und Verbreitung des musikalischen Erbes Carl Gottlieb Reissigers in Belzig – insbesondere die Arbeit des David-Chores – auf ein nachhaltiges institutionelles Fundament gestellt.
Noch im selben Jahr 2003 starb ihre langjährige Freundin und Weggefährtin Anneliese Krolzig im Alter von 74 Jahren. „Eine perfekte lebenslange Freundschaft“ ging damit für Thea Labes zu Ende. Wieviel hatte Anneliese Krolzig mitgetragen bei aller Arbeit! Sie hatte der Freundin abgenommen, was diese schwierig fand und Unterstützung gegeben, damit Thea Labes sich der Musik widmen konnte!
Thea Labes suchte Trost im Bild vom „Himmlischen Jerusalem“ und gestaltete Worte eines zu dieser biblischen Vision gehörenden Liedes auf dem Grabstein für Anneliese Krolzig: „Des jauchzen wir und singen dir das Halleluja für und für“ (letzte Zeilen des Liedes „Wachet auf, ruft uns die Stimme“).
Als die Mutter von Thea Labes, die mit dem Eintritt in ihren Ruhestand nach Belzig gezogen war und mehr als 30 Jahre, noch als über 90 jährige in der Kantorei und im David-Chor mitgesungen hatte, im Jahr 2006 starb, kam ihr Name auf denselben Grabstein.
Anneliese Krolzig war bei den Vorbereitungen zur Aufführung eines nächsten großen Reissiger- Werkes noch dabei: das im Dresdener Archiv aufgefundene 1837/38 komponierte Requiem (eine lateinische Messe für die Verstorbenen), welches in Dresden lange Jahre an den Todestagen der sächsischen Könige aufgeführt worden war. Von dem lateinischen Eingangsgesang Requiem aeternam dona eis, Domine („Ewige Ruhe schenke ihnen, o Herr“) leitet sich die Bezeichnung für diese Art von Messe ab. „Aus Reißigers Musik spricht die Gewissheit, dass über Tod und Gericht das strahlende Licht der Ewigkeit leuchtet“, zitierte die Märkische Allgemeine Zeitung die Gedanken von Thea Labes dazu. – Immer werden ihr wohl die Toten ihres Lebens beim Dirigieren des Requiems in Herz und Sinn gewesen sein. Und wer von denen, die Anneliese Krolzig kannten, hätte dabei nicht ansie gedacht…
Für das Requiem gab es dank der Computer-Künste von Christian Hildebrand gedruckte Noten. Mit außergewöhnlichem Einsatz beschäftigte er sich von nun an auch mit der Suche nach vorhandenen Werken, mit musiktheoretischer Aufarbeitung des Schaffens von Carl Gottlieb Reissiger. Eine von ihm gestaltete und verantwortete Website zum Schaffen des Komponisten erweitert und ordnet er beständig.
Thea Labes setzte sich jetzt manchmal vor dem Schlafengehen an ihren Flügel und spielte und sang ganz für sich ein Abendlied von Reissiger: „Schlaft in Ruh, die Liebe Gottes deckt Dich zu.“
Die Musik mit dem Text vermittelte ihr Trost und Ruhe, im Alleinleben, in der Auseinandersetzung mit dem Älterwerden und dem Auftreten von gesundheitlichen Einschränkungen.
Sie begann darüber nachzudenken, wie die weiteren Bemühungen um die geistlichen Werke Reissigers, die bereits von ihr gehobenen Schätze, aber auch die vielen noch ausstehenden, gewahrt und fortgesetzt werden könnten. So wurde die Idee einer Stiftung geboren und verwirklicht. Im Jahr 2007 wurde die „Carl-Gottlieb-Reißiger-Stiftung“ gegründet. Damit schuf sie eine finanzielle Unterstützung zur Pflege und Verbreitung des musikalischen Werkes von Reissiger sowie zur Intensivierung und Fortführung der Forschung über dessen Wirken und Arbeiten.
Zu dem „Traum von Jerusalem“ gesellte sich ein weiterer: der „Traum vom Reißigerhaus“ als Gedenkort für den Komponisten.
Und dann kam, womit lange Zeit kaum zu rechnen gewesen war: Die Stadt Belzig trug Thea Labes ihre höchste Auszeichnung an: Die Ehrenbürgerschaft. Nach fast 50jähriger Tätigkeit für Kirchenmusik in Dienst und Ruhestand in Belzig und über 20jährigem intensivem Bemühen um den großen Sohn der Stadt. Am 28. April 2006 fand das herausragende Schaffen der kleinen energievollen Frau die große öffentliche Ehrung. Ihr Verdienst lag vor allem darin, dass sie kirchenmusikalische Werke des romantischen Komponisten wieder neu zum Erklingen gebracht hatte, nicht nur in Belzig und Brandenburg/Havel, sondern auch in Luckau zur Landesgartenschau, in der Dresdner Hofkirche, der Wirkungsstätte Reissigers, in Stralsund – ihrer Geburtsstadt.
Ständig suchte Thea Labes, das Repertoire der Reissiger-Kompositionen zu erweitern, das sie mit Chor und Instrumentalisten zur Aufführung bringen konnte. Längst sind es zu viele Konzerte geworden, um sie alle aufzulisten.
Das sechste Jahrzehnt konnte Thea Labes nicht mehr vollenden. Die großen Träume von der Reise nach Jerusalem und vom Gedenkort für Carl Gottlieb Reissiger in seinem Geburtshaus sah sie selbst nicht mehr erfüllt.
Aber auch in diesem letzten angefangenen Jahrzehnt gab es sehr besondere und bemerkenswerte Ereignisse in ihrem Leben:
Im Jahr 2009 gewann die „Reißiger-Gesellschaft“ einen Schirmherrn, den schwedischen Dirigenten Herbert Blomstedt, Mitglied der Schwedisch-Königlichen Musikakademie. Thea Labes war auf ihn aufmerksam gemacht worden, weil Blomstedt in Dresden eine Ouvertüre von Reissiger dirigiert hatte. Für die Sendung einer CD mit einer Aufnahme des Requiems sowie eines handgeschriebenen Begleitbriefes erhielt sie seinen Dank, in welchem er die hochinteressante Tätigkeit der „Reißiger- Gesellschaft“ hervorhob.
In einer von der Arbeitsgemeinschaft „Städte mit historischem Ortskern“ angeregten Aktion wurde die Tür des Reißigerhauses zum „24. Türchen“ eines „Historischen Adventskalenders“ ausgewählt. Nach der Öffnung dieser Tür durch Bürgermeisterin und Pfarrer sang der David-Chor im Reißigerhaus „Macht hoch die Tür“!
Im Rahmen der Brandenburger Kulturlandkampagne „Frauen machen Stadt“ im Jahr 2010 wurde das Reißigerhaus als Denkmal gewürdigt, sowie dem Leben des Komponisten Carl Gottlieb Reissiger und der Kirchenmusikerin Thea Labes eine Ausstellung gewidmet. Den feierlichen Abschluss für die Kulturlandkampagne bildete eine erneute Aufführung des „David-Oratoriums“.
Das Jahr 2011 begann wiederum mit einem besonderen Reissiger-Konzert, bei welchem ein Concertino für Solo-Klarinette und ein Magnificat zu hören waren. Für beide Werke mussten verschiedene Notenfassungen miteinander verglichen und bevorzugte Varianten rekonstruiert werden.
Bald darauf erreichte Thea Labes das Angebot, noch im Frühjahr 2011 nach Israel zu reisen. Das musste sie jedoch zu diesem Zeitpunkt ablehnen: „Für Chor, Orchester und Solisten ist das viel zu kurzfristig, die sind alle längst verplant, von den notwendigen Chorproben ganz zu schweigen.“, sagte Thea Labes laut Fläming-Echo. Aber für das kommende Jahr 2012 werde man um Terminvorschläge bitten.
Hoch geehrt fühlte sie sich, dass sie im September 2011 dem Bundespräsidenten und dem Papst im Schloss Bellevue begegnen konnte.
Kurz danach musste sie ins Krankenhaus. Sie wusste, dass es nicht sicher ist, ob die bevorstehende Operation gut ausgehen würde.
„Ich gehe den Weg aller Welt“, singt David im Oratorium angesichts seines bevorstehenden Sterbens.
Ob Thea Labes diese Worte in sich trug, als sie sich in die Operation begab? Einige Tage noch lebte sie im Koma. Neben ihr saßen ihre engsten Vertrauten und sangen Lieder. Sie begleiteten sie auf ihrem „Weg aller Welt“. Am 13. Oktober 2011 schlief Thea Labes für immer ein.
„Des jauchzen wir und singen dir das Halleluja für und für“ steht nun auch für sie selbst auf dem Grabstein an der Mauer des Gertrauden-Friedhofs in Bad Belzig, den sie schon für Anneliese Krolzig und ihre Mutter Hertha Labes beschriftet hatte.
74 Jahre alt wurde Thea Labes.
54 Jahre hat sie in Belzig (seit 2010 Bad Belzig) gearbeitet, Menschen zum Singen und Musizieren gebracht und dafür gewürdigt.
27 Jahre ihrer kirchenmusikalischen Arbeit waren gekennzeichnet von der großen Bemühung um den musikalischen Sohn der Stadt Bad Belzig Carl Gottlieb Reissiger.
Das Oratorium „David“ wurde ein halbes Jahr nach ihrem Tod durch den David-Chor unter Leitung von Kantor Winfried Kuntz nach Jerusalem gebracht und erklang dort in der Erlöserkirche.
Das Reißigerhaus konnte von der „Carl-Gottlieb-Reißiger-Stiftung“ sieben Jahre nach ihrem Tod erworben werden, um es als Gedenkort zu gestalten.
Die Bewahrung und weitere Entdeckung geistlicher Werke von Carl Gottlieb Reissiger, vor allem das Singen und Spielen seiner schönen Musik, kann immer auch als eine Würdigung des „gehobenen Schiffes“ von Thea Labes gesehen werden.
Bettina Dusdal im November 2019